Niedersachsen klar Logo

Tiergestützte Pädagogik im LBZB in Hannover

– Eine Arbeitsgemeinschaft mit Heim- und Nutztieren -
Mädchen mit Hasen Bildrechte: LBZB
Mädchen mit Hasen
Blindenführhund Teddy gab den Anstoß

Seit Mai 1993 bin ich, Ulrike Krüger, als pädagogische Mitarbeiterin in der Förderschule „Sehen (Blinde) und geistige Entwicklung“ am Landesbildungszentrum für Blinde in Hannover beschäftigt. Aufgrund einer degenerativen Netzhauterkrankung verschlechterte sich mein Sehvermögen seit meinem 10. Lebensjahr stetig, so dass ich mich im Jahr 2000 dazu entschloss, den Verlust meines Augenlichtes mit Hilfe eines Blindenführhundes zu kompensieren. Mit meinem Führhund Teddy erhielt ich jedoch nicht nur ein erhebliches Maß an Mobilität zurück, sondern gewann auch spürbar an Lebensfreude und -qualität.

  • Beziehungen und Kontakte im Alltag und an meinem Arbeitsplatz veränderten sich positiv.
  • Schüler:innen aus anderen Klassen besuchten uns in meiner Schulklasse.
  • Kolleg:innen aus anderen Bereichen der Einrichtung, zu denen ich vorher kaum Kontakt hatte, suchten das Gespräch mit mir.
  • Einladungen in andere Klassen folgten.
Blindenhund Teddy Bildrechte: LBZB - U. Krüger
Blindenhund Teddy

Bei den Tierbesuchen wurden Esel, Hühner, Kaninchen, Meerschweinchen, Ponys, Schafe und eine kleine blinde Retrieverhündin unterstützend in der pädagogischen Arbeit eingesetzt. Ziel dieser Tierkontakte war, hochgradig sehbehinderten, blinden und komplex beeinträchtigten blinden Kindern und Jugendlichen einen Kontakt zu Tieren zu ermöglichen, diese in Alltagssituationen zu erleben, zu erkunden und zu versorgen und somit möglicherweise vorhandene Ängste durch neue Erfahrungen abbauen zu können, Vertrauen in eigene Fähigkeiten zu gewinnen und neue Handlungs- und Sozialkompetenzen zu entwickeln.

Wichtig hierbei erschien mir das Prinzip der Freiwilligkeit. Die Kinder und Jugendlichen sollten im Rahmen ihrer Möglichkeiten selbst bestimmen, wie viel Kontakt sie zu den Tieren zulassen wollten und in welchem Tempo dies geschehen konnte. Es wurde mit den Tierkontakten keinesfalls beabsichtigt, missionarisch auf Eltern, Kinder und Jugendliche einzuwirken, um diese zu bewegen, eigene Tiere anzuschaffen. Wünschenswert erschien mir vielmehr, allen Beteiligten durch den Kontakt zu den Tieren zu vermitteln, dass diese – genau wie wir Menschen – Lebewesen mit eigenen Bedürfnissen und Emotionen sind und dass nur ein Tier, das artgemäß gehalten wird, sich wohlfühlen kann und die Verhaltensweisen zeigt, an denen wir uns so sehr erfreuen.

Tiergestützte Interventionen rücken in Deutschland zunehmend in den Fokus von Pädagog:innen, Psycholog:innen, Mediziner:innen und Wissenschaftler:innen. Es gibt mittlerweile eine Vielzahl von Erfahrungsberichten aus der Ergo- und Physiotherapie, der Kinder- und Jugendpsychiatrie, aus dem Einsatz in Krankenhäusern, dem Strafvollzug, aus sonderpädagogischen Arbeitsfeldern, der Geriatrie und Gerontopsychiatrie etc., in denen der positive Einfluss von Tieren auf den Menschen beschrieben wird. Mir ist jedoch bis zum heutigen Tag kein Beispiel bekannt, in dem Heim- und Nutztiere in der pädagogischen Arbeit in der Förderschule mit hochgradig sehbehinderten, blinden und komplex beeinträchtigten blinden Kindern und Jugendlichen in dem Umfang eingesetzt werden, wie in dem vorgestellten Projekt.

Wann immer ein intensiver Mensch-Tier-Kontakt in pädagogischen, therapeutischen oder gar medizinischen Arbeitsfeldern angebahnt werden soll, treten natürlich Fragen in Bezug auf die Hygiene und mögliche Risiken auf. Die meisten Menschen kennen Nutztiere, z. B. Esel, Geflügel, Rinder, Schafe nur noch aus dem Fernsehen und dann zum Teil nur aus ziemlich realitätsfremden Zusammenhängen – die lila Kuh. Selbst diejenigen, die auf dem Land leben, haben kaum noch Gelegenheit, Nutztiere auf Weiden und Wiesen zu beobachten und zu erleben, da diese oft im Rahmen der Massentierhaltung in großen für Besucher nicht zugänglichen Ställen „verschwinden“. Dieser Mangel an Erfahrungen im Kontakt und Umgang mit Nutztieren führt vielfach zu Verunsicherungen, erzeugt diffuse Befürchtungen und falsche Rückschlüsse im Hinblick auf die „Gefahren“, die vermeintlich von diesen Tieren ausgehen.

Etwas differenzierter werden Heimtiere (z. B. Hunde, Katzen, Kaninchen, Meerschweinchen etc.) gesehen. Allein der Begriff „Heimtier“ impliziert schon ein gewisses Maß an Domestikation und Vertrautheit und erleichtert somit vielen Menschen einen vorurteils- und angstfreien Zugang zu ihnen. Sofern einige grundsätzliche Regeln im Rahmen eines klaren Konzeptes unter Berücksichtigung der bestehenden Strukturen einer Einrichtung befolgt werden, kann das Infektions- und Unfallrisiko bei einem Tierkontakt minimiert bis ausgeschlossen werden.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass im Umgang mit Tieren Risiken und Infektionsgefahren mit den unterschiedlichsten Erregern (Viren, Bakterien, Pilzen, Parasiten), Unfallgefahren (Kratzen, Beißen, Sturz) sowie die Gefahr, dass Allergien ausgelöst oder verschlimmert werden, existieren. Wägt man jedoch Risiken und Nutzen gegeneinander ab, sind der positive Einfluss, die zu erwartende Freude und die heilende Auseinandersetzung mit dem Tier höher einzustufen als die möglichen Infektionsrisiken.
(vgl. Schwarzkopf/Weber (2003)

Die Arbeit mit Tieren und hochgradig sehbehinderten, blinden sowie komplex beeinträchtigten blinden Kindern und Jugendlichen erfordert eine besonders strukturierte und einfühlsame Form der Herangehensweise. Bereits bei den ersten Tierbegegnungen hat sich gezeigt, dass eine positive Kontaktaufnahme zu den Tieren nicht von den kognitiven, motorischen und visuellen Fähigkeiten unserer Kinder und Jugendlichen im Landesbildungszentrum für Blinde abhängig ist, sondern vielmehr von der Ausgestaltung der Rahmenbedingungen. In Begleitung einer ihnen vertrauten Betreuungsperson, mit Geduld, viel Einfühlungsvermögen und unter Berücksichtigung ihrer Bedürfnisse sowie behinderungs- und persönlichkeitsbedingten Voraussetzungen konnten Situationen geschaffen werden, die sich sehr positiv auf das Wohlbefinden und damit auf die Entwicklung dieser jungen Menschen auswirkten.

Die Resonanz auf das Projekt war in der Gesamteinrichtung überwältigend hoch. Sowohl die Kinder und Jugendlichen als auch Eltern und Kollegen empfanden den Besuch der Tiere als große Bereicherung. Aus den Tierbesuchen ergaben sich hervorragende Themen für die Kommunikation innerhalb der gesamten Einrichtung und sie nahmen einen breiten Raum in der Interaktion ein. Die Tiere „lieferten“ Gesprächsstoff in allen Bereichen. Diejenigen Kinder und Jugendlichen, die schreiben können, waren motiviert, kleine Berichte über sie zu schreiben. Auch für die komplex beeinträchtigten blinden Kinder und Jugendlichen schienen die Tiere Sprachanlässe zu schaffen. Kolleg:innen bemerkten, dass die Schüler:innen während und nach den Tierkontakten vermehrt lautierten. In den Internatsaktivitäten gaben die Tierbesuche Anlass, Zoo- oder Tierparkbesuche mit den Internatsbewohnern zu planen und damit einer noch größeren Zahl von Bewohnern Kontakte zu Tieren zu ermöglichen.

Nach meinem Erachten war und ist der Tierbesuchsdienst von Ingrid Stephan für unsere Einrichtung eine ideale Alternative zur eigenen Tierhaltung.

Mann mit Hasen und Esel Bildrechte: LBZB
Mann mit Hase und Esel

Er ermöglicht eine große Flexibilität ohne jegliches finanzielles Risiko. Unsere Schüler:innen haben die Gelegenheit, viele verschiedene Tiere mit einer Vielfalt an Persönlichkeiten individuell kennen zu lernen. Je nach Bedarf, Kapazitäten und finanziellen Möglichkeiten können die Tierbesuche intensiviert werden oder aber auch in größeren Abständen erfolgen. Die damit verbundenen Kosten sind kalkulierbar und bergen keine „bösen Überraschungen“. Da Frau Stephan alle ihre Tiere gut kennt, ist gewährleistet, dass die Auswahl der Tiere genau auf die Bedürfnisse unserer Kinder und Jugendlichen abgestimmt ist. Sollte sich ein bestimmtes Tier dennoch im Kontakt zu unseren teilnehmenden Schüler:innen als nicht so geeignet erweisen, besteht jederzeit die Möglichkeit, dieses nicht mehr in der pädagogischen Arbeit mit unseren Kindern einzusetzen. Im Falle eigener Tierhaltung im Landesbildungszentrum für Blinde wäre die Lösung nicht so einfach. Während des Projektes schienen sich die Kinder, Tiere und alle weiteren am Projekt beteiligten Personen im Umgang miteinander sehr wohlzufühlen, so dass für alle klar war:

Die pädagogische Arbeit mit den Tieren im Landesbildungszentrum für Blinde muss weitergehen!


Diese Erkenntnis hatte zur Folge, dass weitere Sponsoren zur Finanzierung der Tierbesuche gefunden werden mussten. Aus unserem Projekt wurde nun die Arbeitsgemeinschaft „Lernen mit Tieren“. Erfreulicherweise gelang der „nahtlose Übergang“ ins Schuljahr 2008/2009 u. a. durch die finanzielle Unterstützung der AWD Stiftung Kinderhilfe sowie einer großzügigen privaten Spende. Dafür sind wir sehr dankbar.


Aktion Kindertraum Bildrechte: Aktion Kindertraum
Aktion Kindertraum
Führhund Bauxi Bildrechte: LBZB - U. Krüger
Führhund Bauxi

Im Schuljahr 2010/2011ereilte uns dann ein unglaublicher Glückstreffer!!! „Aktion Kindertraum“, die uns bereits schon in den Vorjahren unterstützt hat, übernahm die komplette Finanzierung unserer Arbeitsgemeinschaft „Lernen mit Tieren“. Seither finanziert „Aktion Kindertraum“ in jedem Jahr 40 Tierbesuche jeweils donnerstags in der Zeit von 9:00 - 12:00 Uhr. Durchschnittlich werden in jedem Schuljahr etwa 65 Kinder und Jugendliche für diese Arbeitsgemeinschaft angemeldet. Die Tiere sind aus unserem pädagogischen Alltag nicht mehr wegzudenken. Wir sind sehr froh und dankbar für diese wertvolle Unterstützung.

Mein lieber Führhund Teddy, der letztendlich den Anstoß für die Arbeitsgemeinschaft „Lernen mit Tieren“ gab und dem ich so unendlich viel zu verdanken habe, ist leider im Sommer 2013 verstorben.

Mein neuer Führhund Bauxi hat nun seinen Job übernommen. Er ist ein kleiner Wildfang, erfreut sich aber bei unseren Kindern und Jugendlichen großer Beliebtheit und ist donnerstags bei der Tier-AG ein willkommenes Mitglied im Team.

Ulrike Krüger
zum Seitenanfang
zur mobilen Ansicht wechseln