Tonspur - Wie die LOC.id-Technik Menschen mit Sehbehinderung durch die Stadt führt
Trrrrr – Achtung, Baustelle!, tönt es von der rot-weiß gestreiften Bake. Das Trrrrr-Geräusch erinnert an einen Specht, der auf einem Baumstamm trommelt. Die Baustellenbake zwei Schritte daneben antwortet mit einem etwas höheren „Trrrrr“. Gemeinsam bilden sie eine Art akustisches Tor, durch das auch Men schen mit Sehbehinderung sicher an der Baustelle im Osten Hannovers vorbei kommen sollen.
Besagte Langzeitbaustelle befindet sich direkt vor dem Eingangstor des Landes bildungszentrums für Blinde (LBZB), das aus der Not eine Tugend gemacht hat: Ge meinsam mit der Stadt Hannover und dem Bauunternehmen Strabag testet das LBZB während der langwierigen Baumaßnahme hier akustische Leitsysteme. Die Partner wollen Standards für barrierefreie Bau stellenmarkierungen erarbeiten, die bei künftigen Ausschreibungen gelten sollen. Dafür testen sie unterschiedliche akustische Signale und Versuchsanord nungen. In vier Baken beziehungsweise den runden, gelben Leuchten an ihrer Spitze sind kleine Empfangsmodule mit Lautsprecher installiert. Sobald sich eine Person mit einem kleinen Handsender oder der passenden App auf dem Handy nähert, aktivieren diese mittels Bluetooth Signalen die Tonausgabe der Empfangs module. „LOC.id“ heißt diese Technik, die das Unternehmen RTB aus dem west fälischen Bad Lippspringe entwickelt. Wir geben einen Überblick über die Technik, erklären, wer sie wo nutzen kann, und be richten, wie das Pilotprojekt in Hannover läuft.
Barrierefreie App als Sender
Menschen mit Sehbehinderung brauchen die LOC.id-App oder einen kleinen Hand sender von RTB (circa 100 Euro), um die Technik zu nutzen. Die App ist kostenlos für iOS und Android erhältlich und barrie refrei designt. Um im Hintergrund zu ar beiten, benötigt sie dauerhaft Zugriff auf die Bluetooth- und die Standortfunktion des Handys. Das Betriebssystem fordert, dass die Ortungsdienste aktiv sind, wenn es Entfernungen via Bluetooth messen soll. Die App nutze die GPS-Daten aber nicht, erklärt Marc Rummeny, Geschäfts führer Marketing und Vertrieb von RTB. Sind Bluetooth und GPS aktiv, funk tioniert LOC.id simpel: Zu Beginn tippen utzer auf den „Aktiviere LOC.id“-But ton auf der Startseite der App. Diese sucht dann nach LOC.id-kompatiblen Geräten und aktiviert sie automatisch, wenn das Handy sich ihnen nähert. Die Bedien oberfläche ist einfach aufgebaut und mit Hilfen wie Google TalkBack gut bedien bar. Auch im Hintergrundbetrieb sucht die App nach LOC.id-Geräten in der Nähe. Gefundene Geräte listet sie auf – ab welcher Entfernung die Tongeber an Am peln, Fahrstühlen oder Baustellenbaken aktiv werden, hängt von ihren jeweiligen Einstellungen ab.
Wer nun die LOC.id-App herunterlädt und in der eigenen Umgebung auspro biert, wird vielleicht enttäuscht. Die Tech nik ist längst nicht flächendeckend ver breitet und selbst wenn eine Stadt wie Hannover grundsätzlich damit arbeitet, sind oft nur einzelne Empfangsmodule an Ampeln oder anderen Orten verbaut. Eine Übersicht über einige Städte, die derzeit mitmachen, gibt es auf der Website der Smart Mobility Services GmbH (SMS) – Links zu den erwähnten Firmen und Pro jekten unter ct.de/yhsg. Die SMS unter stützt Firmen im LOC.id-Technik einsetzt, fragen Interessierte am besten direkt bei der Stadt nach.
Ampeln und Aufzüge als Empfänger
Von der Fußgängerampel über den Fahr stuhl bis zur Baustellenbake ist LOC.id an vielen Orten einsetzbar. Ampeln haben zum Beispiel häufig ohnehin einen akus tischen Signalgeber, der klackert, solange die Ampel rot ist, und piept, sobald sie grün zeigt. RTB, die Firma hinter LOC.id, stellt Ampeltaster und -signalgeber her und rüstet letztere bei Bedarf mit der Funktechnik aus. Nähert sich dann eine Person mit LOC.id-Signal, schwellen die akustischen Ampelsignale an. Ist keine solche Person in der Nähe, bleiben die Signale leiser – so will RTB erreichen, dass Nutzer die Signale optimal hören, Anwoh ner aber geschont werden. In Hannover sind Ampeln in der Nähe des LBZB mit LOC.id ausgerüstet.
Andere LOC.id-Module informieren Nutzer über die nächsten Abfahrten an einer ÖPNV-Haltestelle oder über den Ort, an dem sie sich befinden. So hat bei spielsweise Halle an der Saale 2024 auf dem Marktplatz ein Leitsystem mithilfe solcher Module gebaut: Werden diese ak tiviert, erklären sie unter anderem, welche Straßen oder öffentlichen Gebäude an die jeweilige Seite des Marktplatzes angren zen. Die Module hängen meist an Later nenpfosten und laufen laut RTB typischer weise mit Nachtstrom. Ein Exemplar ist sogar in den Boden eingelassen („LOC.id ROCK“) und läuft mit Solarstrom.
Solche Informationsmodule nutzt auch das LBZB seit 2024. Sie helfen Be suchern mit Sehbehinderung dabei, sich auf dem weitläufigen Gelände des Bil dungszentrums zurechtzufinden. Bald sollen die Tonausgaben dort sogar in sechs verschiedenen Sprachen verfügbar sein: Der Infotext wird dann in der Spra che der auslösenden LOC.id-App abge spielt, die wiederum die Spracheinstel lung des Handy-Betriebssystems über nimmt. Das LBZB ist der erste Ort, der die Mehrsprachigkeit von LOC.id-Ansagen einführt.
Neben LOC.id gibt es weitere Apps, die Menschen mit Sehbehinderung im städtischen Raum helfen, zum Beispiel bei der Navigation in öffentlichen Gebäuden oder Verkehrsmitteln. In Wien betreibt die Firma Schaefer viele Fahrstühle der Wie ner Linien und die passende App „Lift boy“, mit der man den Aufzug automatisch ruft und in das gewünschte Stockwerk schickt. In solchen Fällen schlägt die LOC. id-App die passende Drittanbieteranwen dung vor – ist sie auf dem Smartphone schon installiert, können Nutzer sie direkt öffnen. Andernfalls stellt die LOC.id-App die Downloadlinks bereit.
Grünphase verlängern mit Nachweis
Um die Straße an einer Fußgängerampel sicherer zu queren, können LOC.id-App Nutzer sogar automatisch die Grünphase der Ampel verlängern. Vor kreuz und quer herumliegenden oder im Weg stehenden E-Scootern warnt die App auch, allerdings bisher nur bei den Modellen von Bolt in einigen Städten. Diese Scooter haben Empfangsmodule, die akustische Warn signale abgeben, wenn sich eine Person mit LOC.id-App oder Handgerät nähert.
Wer solche Sonderfunktionen nutzen möchte, muss sich zunächst in der App re gistrieren und nachweisen, dass er eine Seh behinderung hat. Unter iOS lädt man ent sprechende Dokumente direkt in der App hoch, unter Android geht das bisher nicht – hier hilft eine Mail an info@sms-start.de.
Mit dieser Prüfung wollen die Macher Miss brauch vorbeugen.
Empfangsmodule per App konfigurieren
Mithilfe der zugehörigen Service-App seien LOC.id-Empfangsmodule intuitiv konfigurierbar, berichtet Claas Proske, Leiter des Bereichs Koordination der Diagnostik des Funktionalen Sehens und Hilfsmittelberatung beim LBZB. Die Texte für die Sprachausgabe kann man frei ein stellen und außerdem wählen, ab welcher Entfernung zum Sender welche Töne aus gegeben werden sollen. Auch die Laut stärke ist einstellbar.
Alternativ bietet RTB an, die Module vorab zu konfigurieren. Die Preise für Emp fangsmodule von RTB liegen laut Proske im mittleren dreistelligen Bereich: Ein Modul mit Lautsprecher („LOC.id POI“) kostet knapp 600 Euro, hinzu kommt ge gebenenfalls Zubehör, zum Beispiel eine Halterung. Eine Baustellenleuchte mit ein gebautem Modul liege bei knapp 500 Euro.
Test-Baustelle vor dem LBZB
Vier dieser Leuchtenmodule nutzt das LBZB an der Baustelle vor seiner Tür. Der Testbetrieb dort soll so lange laufen, wie die Baustelle besteht. „Die Schülerinnen und Schüler sowie Auszubildende des LBZB testen, wie hilfreich unterschied liche auditive Rückmeldungen sind, um sich eigenständig und sicher an der Bau stelle entlang bewegen zu können“, erklärt Proske. Dabei erproben sie verschiedene Töne und Anordnungen der Tongeber, um beispielsweise eine „Querung innerhalb der Baustelle zu einem Zielpunkt auf der gegenüberliegenden Straßenseite“ zu signalisieren.
Die vier Baken mit Empfangsmodul sind in einem Rechteck angeordnet und ertönen nacheinander, sodass sie helfen, einen Durchgang mittels Gehörs zu fin den. Zusätzlich gibt es ein weiteres Emp fangsmodul, das am Anfang der Baustelle über diese informiert und zum Beispiel sagt: „Achtung, Baustelle. Innere Leitlinie benutzen.“
Zusammen mit den Reha-Fachkräften des LBZB im Bereich Orientierung und Mobilität evaluiert Proske die Tests und passt die Versuchsanordnung an. So än derte das Team den Wortlaut des Baustel lenhinweises und fügte eine Angabe zur Länge der Baustelle hinzu („Achtung, Bau stelle von 200 Metern Länge“). Die An sagen müssen sie außerdem ständig an den Fortschritt der Baumaßnahme anpas sen, wenn die Baustelle beispielsweise auf die andere Straßenseite verlegt wird oder später eine Ampel hinzukommt.
Projekt findet Nachahmer
Zusätzlich zu den akustischen Hinweisen will das Team auch taktile Leitsysteme auf den Gehweg auftragen, um die Orientie rung mittels Langstock zu erleichtern. Zu diesem Zweck will das LBZB auch mit Blechen experimentieren, die die Füße der Absperrungen abdecken. „Hier besteht sonst die Gefahr, dass diese mit einem Langstock nicht alle erfasst werden“, er klärt Proske. Noch circa ein Jahr soll die Baumaß nahme vor dem LBZB dauern, so lange läuft auch das Projekt. Ein kleines Gremi um trifft sich regelmäßig zum Austausch. Dazu gehören verschiedene Fachbereiche der Stadt Hannover (zum Beispiel Tiefbau, Stadtplanung und Feuerwehr), der Bereich Verkehrssicherung (die ausführende Bau firma Strabag), der Behindertenbeauftrag te der Stadt Hannover sowie Personen von der Firma RTB und dem LBZB. Aus dem Bundesland Bremen gibt es schon Interes se, Erfahrungen aus dem Projekt aufzu greifen. (gref@ct.de)